Sonntag, 13. Januar 2019

Saccidananda Ashram

Ich sitze mit einem Becher Tee und Keksen im Schatten, während ich das schreibe. Die Mittagsruhe legt sich über den Ashram. Seit vier Tagen sind wir hier. Es ist leicht, sich an die Tagesroutine zu gewöhnen, an die dreimal täglich wiederkehrenden Gebetszeiten, das Morgen- und das Abendmantra, die gemeinsam (auf dem Boden sitzend) eingenommenen Mahlzeiten, deren Zutaten wir nach dem Frühstück selber gehackt haben, an die Tee- bzw. Kaffeepause am Vormittag und Nachmittag. Wir wissen, welche Tageszeit am besten ist für Unternehmungen und Ausflüge und wo wir uns mit Keksen eindecken können. Die Teilnahme am Tagesprogramm ist übrigens freiwillig - aber es ist leicht, sich in den Flow hineinzubegeben, davon tragen zu lassen. Am Vormittag und am Abend haben wir außerdem gemeinsames Tanzprogramm, gestern abend waren alle Besucher des Ashrams dazu eingeladen. 

Heute vor dem Frühstück war ein Mordsgetöse vor dem Speiseraum, Trommeln und Tröten, und zwei Karren wurden mit Papierfahnen und Palmwedeln geschmückt. Vier weiße Büffel mit grünen und roten Hörnern, die man bereits geduscht und gebürstet hatte, wurden herbeigeführt und an die Karren angeschirrt, und man bat die Ashramgäste, darauf Platz zu nehmen. Worum es ging: eine deutsche Organisation, deren Namen ich nicht weiß, hat offensichtlich zwanzig einfache Häuser für das Dorf gespendet, die heute eingeweiht werden sollten. Eine Vertreterin der Organisation war anwesend, aber offensichtlich wollte man die Karren mit mehr Westlern füllen und ermunterte uns deshalb, auch aufzusteigen. Unser englischer Freund Michael, der jedes Jahr mehrere Monate im Ashram verbringt und immer die beste Informationsquelle ist, hatte uns bereits augenrollend von dieser Aktion erzählt, die er “ disgusting” fand, wegen dem ganzen Pomp und der gönnerischen (weißen) Überlegenheitsgeste. Die meisten unserer Gruppe wählten auch, nicht mitzufahren, sondern lieber gemeinsam mit dem Küchenpersonal Zwiebeln zu hacken und Rote Bete zu reiben. Später hörten wir von dem aufgebrachten Michael, dass man im Dorf den Kindern Süßigkeiten hingeworfen hatte, auf die diese sich dann gestürzt hätten.

Ich habe mich jetzt in mein Zimmer (meine Zelle?) zurückgezogen, um den schwedischen Gesprächen über den Unterschied zwischen Schweden und Indien zu entkommen. Überhaupt ist mein Bedürfnis nach Rückzug ziemlich groß, und ich gebe ihm nach, so weit meine Rolle das hier erlaubt. Der Ventilator dreht sich über meinem Kopf und fächelt mir eine kühlere Brise zu. Gestern Abend bin ich in mein Bad gegangen und habe die Bananen, die ich zuvor auf den Tisch gelegt hatte, angeknabbert auf dem Boden gefunden - ein Gruß der Eichhörnchen, denen ich schließlich auch den Rest der Mahlzeit überließ, allerdings außerhalb meines Zimmers. 

Gestern habe ich mich am Nachmittag unter mein Moskitonetz gelegt und angefangen, Bede Griffiths Buch “Return to the Centre” zu lesen. Unter seiner Leitung hat sich der Ashram von 1968 an zu dem entwickelt, was er heute ist, gegründet wurde er aber bereits 1950 vom zwei französischen Patern, die das zweite vatikanische Konzil vorwegnahmen, indem sie zeigten, dass sie sich mit der hinduistischen “Suche nach Gott” und der Frage nach dem Absoluten identifizierten. Den Ashram nannten sie “Saccinananda”, was so viel heißt wie “Sein, Bewusstsein und Seligkeit”, ein hinduistischer Begriff für die Gottheit, die die Mönche als Symbol für die heilige Dreieinigkeit des christlichen Glaubens verstanden. Einer dieser zwei Mönche starb schon 1957, bevor der Ashram etabliert war, der andere lebte eine Weile hier allein und zog dann als Hermit in den Himalaya, wo er 1973 starb. Seit 1980 gehört Shantvanam zum Benediktiner-Orden, inzwischen leben hier ausschließlich indische Mönche. Werdende katholische Priester sind öfter zu Besuch hier, wie die Gruppe der Priesterkandidaten aus Coimbatore, junge und offene (und ernsthafte und verspielte) Männer, die eine zwölfjährige Ausbildung durchlaufen, bevor sie zu Priestern geweiht werden. Texte der Baghavadgita gehören genauso zum Gottesdienst wie schmissige Lieder auf Tamil, zu denen getrommelt und gerasselt wird, und bei denen wir mitzusingen versuchen, so gut es geht. Die Liturgie hat Elemente der hinduistischen Tempelrituale übernommen - das Schwenken des Feuers, das Pulver, in das man den Finger taucht, bevor man sich damit auf die Stirn tupft, das Erheben der Hände über den Kopf, das Sich-zu-Boden-Werfen. 

Einer der Mönche berührt mich besonders, schon seit meinem ersten Besuch im Jahr 2012. Er ist großgewachsen, trägt das graue Haar zurückgekämmt und ist eine edle Erscheinung, trotz seiner ausgewaschenen orangegelben Sanyassin-Tücher. Er hält sich immer abseits, sitzt auch in der Kirche nicht in der Reihe der Mönche, sondern auf einem Besucherstuhl. Er redet nicht, läuft immer allein über das Gelände, mit den Händen auf dem Rücken. Auch bei den Mahlzeiten sitzt er nicht im allgemeinen Speisesaal, sondern im Vorraum, an einem der Tische, wo an den Morgen das Gemüse gehackt wird. Wenn man ihn anlächelt, dann lächelt er zurück, aber ich habe ihn äußerst selten mit jemandem sprechen sehen (später erfahre ich, dass er aus Kerala kommt und weder Englisch noch Tamil spricht). Für mich stahlt er Einfachheit aus und Bedürfnislosigkeit. In den ersten Jahren war ich immer etwas eingeschüchtert, wenn er mir über den Weg lief, vielleicht, weil ich mir einbildete, er müsse auf mich herabsehen, aber diese seltsame Projektion habe ich inzwischen abgelegt. Es tut mir gut, ihn zu sehen, und mich später an ihn zu erinnern, wenn ich wieder zu Hause bin und in meine Lebensdramen verwickelt.

Der älteste Mönch, der momentan auf dem Gelände lebt, ist ein witziger Typ. Braust mit seinem Moped (und seiner blaugelben Schirmmütze und seiner Umhängetasche) herum, singt laut und ohne jeden Rhythmus im Gottesdienst mit, unterhält sich lebhaft mit den Besuchern, stapft energisch übers Gelände - er half mir vor ein paar Tagen, die französische Ärztin ausfindig zu machen, die so oft hier ist, dass sie ihre eigene Hütte hat, dabei redete er unaufhörlich. Er erzählte, dass er eine Katze hat, die eine Reinkarnation eines der Gründer ist. Er füttert die Pfauen mit Reis, schwört darauf, dass man sich Krankheiten vom Leib hält, wenn man jeden Tag ein frisches grünes Pfefferkorn kaut, und hat die Veranda seiner Mönchshütte, die direkt neben dem Kuhstall steht, mit Konterfeis der spirituellen Väter des Ashrams geschmückt. Wenn er sagt, dass er glücklich ist, glaubt man ihm aufs Wort. 

Der Ashram ist gedacht als Ort der Begegnung für Hinduisten, Christen und Menschen aller Religionen (oder keiner), die “genuin auf der Suche nach Gott” sind. Für mich ist er ein Ort, an dem ich mich wohlfühle. 

Jetzt läutet die Glocke, die anzeigt, dass Teepause ist - also höre ich für heute auf und gehe zum Teepavillon. 

Nachbemerkung: Der indische Optimismus hat sich dann doch nicht bestätigt. Die Kursteilnehmerin mit dem schmerzenden Bein ist inzwischen in Trichy, wo sie sich in einem Luxushotel mit Swimming Pool (und Room Service) hoffentlich etwas erholen kann. 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen