Dienstag, 6. November 2018

Der erste Tag in Indien

Der erste Tag in Indien geht zu Ende, ich sitze auf meinem Bett im YWCA in Chennai, der Ventilator läuft leise an der Zimmerdecke, draußen ist es dunkel, wir warten aufs Abendessen, und ich versuche, die Eindrücke der ersten 24 Stunden zu sammeln und außerdem irgendwie mit dem Blog in Gang zu kommen.

Den gestrigen Nachmittag verbrachte ich schlafend auf meinem Bett, weil ich noch an der nächtlichen Flugreise und der Zeitverschiebung herumknabberte (es ist hier viereinhalb Stunden später als in Deutschland). Das Hotel ist mir von früheren Besuchen vertraut und auch die Weihnachtsdekoration im Garten - große beleuchtete Weihnachtssterne, die in den Bäumen hängen. Ich kenne noch das Personal an der Rezeption, und ich erinnere mich daran, wie das Essen hier schmeckt. Das abendliche Büffet ist vegetarisch, zum Frühstück bekommt man Idlis (gedämpfte Reiskuchen) oder Wadas (frittierte Ringe aus Reis- und Linsenmehl) mit verschiedenen Soßen, Toast mit Butter, die in kleinen handlichen Stücken in einer Schale mit kaltem Wasser schwimmt, Papaya und gekochte Eier, und man kann zwischen indischem Tee und indischem Kaffee wählen.

Es ist etwas Besonderes, zu einem Ort immer wieder zurückzukehren. Selbst das Zimmer, in dem wir wohnen, ist mir noch von früher vertraut. Der schönste Augenblick nach der Ankunft: im Bad den Eimer mit warmem Wasser füllen und es sich dann mit einer Kanne übergießen: Bucket shower!

Die Fahrt mit dem Taxi vom Flughafen zum Hotel ist immer ernüchternd. Die Hässlichkeit der Stadt, der Verkehr, vermüllte oder aufgerissene Gehsteige, ein dichter Smog in der Luft. Im Reiseführer steht, dass das Beste an Chennai die Menschen sind, die hier wohnen, und aus meiner Erfahrung kann ich das nur bestätigen. Die Begegnungen sind herzlich und warm, und während in Delhi Freundlichkeit mit einem Hintergedanken (Bakshish) verbunden zu sein scheint, kommt sie mir hier echt vor.

Wir haben heute eine große Tour durch die Stadt gemacht und alles abgeklappert, was der Reiseführer so empfiehlt. Da ich schon oft in Chennai gewesen bin, war für mich kaum was Neues dabei, aber es sind ja die unerwarteten Dinge, die passieren, die Begegnungen, zu denen es kommt, die das eigentlich Interessante sind.

Meine Reaktion, als wir im staatlichen Museum die Bronzefiguren anschauen, die in staubigen Vitrinen vor sich hinstarren: „Wenn ich hier einen Tag arbeiten würde, dann würde ich erst einmal putzen.“ Die Treppe zwischen den Stockwerken der Cholabronzen-Sammlung ist unglaublich dreckig. In einem Saal schiebt ein Museumswächter, der ein großes Handtuch über seine Schultern gelegt hat, den Schmutz ein wenig mit seiner Schuhspitze zusammen und stellt dann einen Stuhl vor das Dreckhäufchen, um der Optik willen.

Auf dem Museumsgelände verfallende Gebäude, streunende Hunde. In den Bäumen hängen riesenhafte Fledermäuse. Frauen laufen in der typischen gebückten Körperhaltung herum und fegen den Boden mit einem Reisigbesen.

Weiter zur Kirche St.Thomas. Sonntagsgottesdienst. In der Krypta, in der angeblich der Apostel Thomas beigesetzt ist), ist gerade eine Hochzeit im Gange, mit Keyboard, schmalzigem Gesang und einem Priester mit schnitziger Sonnenbrille zum fußlangen weißen Gewand.

Eine Frau aus unserer Gruppe wird vor der Weihnachtskrippe (mit Figuren in wirklichkeitstreuer Größe) beklaut, nachdem sie einer Bettlerin etwas Geld gegeben hat, aber zum Glück ist “nur” Geld in ihrer Börse gewesen.

Im der AC-Abteilung des Saravan Bhavan (Restaurant) sind wir die einzigen Gäste, und die Kellner beobachten amüsiert, wie wir uns von unserem Chauffeur erklären lassen, in welcher Reihenfolge wir die kleinen Schälchen unseres Tali auf das Bananenblatt leeren sollen.

Ein Besuch am Marina Beach, Freude und Unbeschwertheit pur. Handangetriebene Karussells oder "moderne", die sich mit Hilfe eines tuckernden Motors drehen, während der Betreiber sich gelangweilt an die Mittelsäule lehnt. Die Kinder klammern sich an die Eisenstangen, die bunt bemalten Holzpferde (einigen fehlen die Beine) fliegen waagrecht durch die Luft.

Ausgelassen laufen die Menschen in das warme Meerwasser, Junge und Alte. Die Strömung ist stark und man kann deshalb nicht schwimmen. Manche wagen sich trotzdem weiter hinaus, in voller Bekleidung. Patschnasse junge Männer halten einander an den Händen, Mütter umklammern die schmalen Oberarme ihrer Kinder mit einem festen Griff und genießen selber die Kraft der Wellen, die sie beinahe umwirft. Alte Frauen stehen bis zur Taille im Wasser. Eltern sitzen am Strand, ihre Kinder im Auge.

Zuckerwattenverkäufer, selber noch Halbwüchsige, klingeln unablässig mit der Fahrradglocke, die an dem Stecken befestigt ist, an dem die pinkfarbene Zuckerwatte in Zellophantüten hängt.

Auch ich stehe bis zu den Knien im Wasser, ohne mich darum zu scheren, dass das Wasser an meinen Hosenbeinen nach oben zieht.