Dienstag, 8. Januar 2019

Bettlägrig in Chidambaram

Im Hotelzimmer von unserem Pilgerhotel in Chidambaram, das fürchterlich nach Mottenkugeln oder Mückenmittel stinkt, wenn man hereinkommt, aber nach einer Weile hat man sich an den Geruch gewöhnt und nimmt ihn nicht mehr wahr. Gestern hat es mich geschlaucht. Die Erkältung war doch noch nicht vorüber, und als wir in der Mittagshitze in Chidambaram ankamen, sah ich ein, dass ich den Rest des Tages am besten im Bett verbringen sollte. Ich schlief, trank ayurvedischen Tee, aß Papaya und Ananasstückchen, die P mir in regelmäßigen Abständen von einem glücklichen Fruchtverkäufer in kleinen Zeitungspapierpäckchen brachte, hörte mir Podcasts an, las, nahm greulich süßrosa Hustensaft zu mir und war fast ein wenig erleichtert, dass ich mich auf diese Weise ausruhen konnte. 

Deshalb habe ich auch gestern nichts geschrieben - sonst hätte ich von dem Busfahrer erzählen können, der auf der Fahrt von Pondicherry nach Chidambaram geduldig versucht hat, uns einige grundlegende Wörter und Ausdrücke auf Tamil beizubringen. Ich machte mir keine Mühe, sie mir zu merken, es war schon Herausforderung genug, sie nur nachzusprechen, die rollenden Laute, bei denen die Zunge und die Mundhöhle ganz neue Aufgaben bekommen. 

Heute am späten Nachmittag war es dann so weit, dass ich wieder aufstehen konnte. Ich duschte, zog mich an und ging hinaus. Unser Hotel liegt so nahe am Hoteleingang, dass wir die Schuhe im Hotelzimmer lassen konnten. Indische Tempel sind einfach großartig, einschüchternd, magisch und beunruhigend, alles zugleich. Ich versuchte, mir vorzustellen, wie es gewesen war, als man diesen Tempel baute. Unzählige in Stein geschlagene Säulen, labyrinthische Gänge, filigrane Reliefs und Figuren, die man stundenlang studieren könnte. All das von Menschenhand gemacht, vor ungefähr tausend Jahren. Es ist wirklich kaum möglich, das zu begreifen. 

Der Tempel von Chidambaram ist dem Schöpfungstanz von Shiva gewidmet. Vor dem Platz, wo dieser Tanz stattgefunden hat, sitzt heute ein junger gelangweilter Brahmine der Dikshita-Kaste mit dem weißen Hüfttuch und dem typischen Haarknoten und scrollt auf seinem Handy. Einen indischen Tempel zu beschreiben, ist so gut wie unmöglich. Man kann dort stundenlang herumsitzen und nur den Leuten zuschauen, die dort herumlaufen oder -sitzen, und es wird einem nicht langweilig. Chidambaram ist eine Pilgerstadt, und viele Pilger kommen von weither, mit ihren Pilgerbussen, in denen sie auch schlafen und in deren aufklappbarem Kofferraum sich riesige Töpfe befinden, in denen gekocht wird (die Überreste der Mahlzeit samt Papptellern landet im Rinnstein) in ihren speziellen Pilgerfarben - hier vor allem knallrot. 

Ein indischer Tempel ist düster und trotzdem von Licht durchströmt, es gibt überdachte Teile und Innenhöfe unter freiem Himmel. Überall stehen Figuren herum, die verschiedene indische Götter darstellen, hübsch gekleidet, mit Blumengirlanden geschmückt und mit Farbtupfen verziert, dann wieder findet man sich in einem Gebäudeteil wieder, in dem winzige, in Stoff-Fetzen gekleidete Figuren in Wandnischen aufgereiht sind, deren Funktion unklar ist. Vor dem Tempeleingang sind immer haufenweise Stände, an denen man Blumenspenden,  Butterlichter und andere Devotionalien kaufen kann, aber auch nützliche Gegenstände wie Metalldosen und Seile. 

Wenn sich der Zeitpunkt nähert, zu dem das Heiligste enthüllt wird, das sich im Zentrum des Tempelgebäudes befindet, dann erhitzt sich die Stimmung. Die Menschenmenge wird dichter, drängt sich vor der „Bühne“, wo dann im Lauf einer halben Stunde alle möglichen Rituale durchgeführt werden, die für uns Außenstehende schwer zu begreifen sind. Einige Besucher haben Trommeln und  Zimbalen, die sie rhythmisch schlagen, im Chor mit Schellen und riesigen Glocken, die anzeigen, an welchem Punkt die Dramatik sich gerade befindet. Es ist schwer, sich diesem Sog zu entziehen. Feuerlampen werden geschwenkt, Blumengirlanden hin- und hergetragen, die Besucher drängen sich näher, heben die Hände über den Kopf und legen sie dann auf ihre Wangen. Brahminen nehmen Geld entgehen und teilen Farbtupfer aus. Im Vishnutempel bekam ich wieder die kleine Metallschale auf den Kopf gesetzt und ein Schlückchen Wasser in die Hände, mit dem ich mir dann den Mund und die Haare benetzte (ich vermied es, das Wasser zu trinken). 

Irgendwann ist das Spektakel dann zu Ende. Der Vorhang wird vorgezogen, die silbernen Türen werden geschlossen, der Gott darf sich jetzt wieder ein wenig ausruhen, bis es Zeit für die nächste Enthüllung ist. So geht das Tag für Tag, Jahr für Jahr, seit Jahrhunderten. Die Brahminen wirken etwas gelangweilt, vielleicht auch gefangen in dieser unzeitgemößen Rolle, andererseits ist es gerade das Unzeitgemäße, das eine große Kraft ausstrahlt. Mir kommen indische Tempel vor wie Orte, an dem man einen Ort aufsucht, der sich tief in einem selbst befindet. 



1 Kommentar:

  1. Frühstück im Schneechaos mit indischen Geschichten. Ich danke dir!Gute Besserung!!!!

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