Freitag, 18. Januar 2019

Es ist Morgen in Ramesvaram

Es ist Morgen in Ramesvaram. Meine Zimmernachbarinnen sind schon vor sechs aus ihren Zimmern gehuscht und jetzt wahrscheinlich im Tempel, noch mehr Eindrücke einsaugend. Ich habe meditiert und Yoga gemacht und will jetzt den gestrigen Tag zusammenfassen. 

Wir lieben Ramesvaram! Dem indischen Nationalepos Ramayana zufolge hat hier König Rama mit Hilfe des Affenkönigs Hanuman seine Frau Sita aus den Händen des Herrschers von Sri Lanka gerettet. Da Rama seinen Widersacher in der Befreiungsaktion tötete und damit negatives Karma auf sich lud, wollte er Buße leisten. Er forderte Hanuman auf, zum Mount Kailash (dem Aufenthaltsort Shivas) zu fliegen und von dem Gott einen Lingam zu erbeten, mit dessen Hilfe er ein Reinigungsritual vollziehen könne (Der Lingam ist ein Phallussymbol und ein Symbol für Shiva und dessen Zeugungskraft). Da Hanuman so lange unterwegs war, drohte die für das Ritual günstigste Zeit zu verstreichen. In der Zwischenzeit fertigte Ramas Frau Sita einen Lingam aus Sand am Strand von Ramesvaram, und das reinigende Ritual konnte vollzogen werden. Hanuman, der von Shiva nicht nur einen, sondern zwei Lingams bekommen hatte, kam (wegen seiner Verpätung) zerknirscht zurück. Als Rama Sitas improvisierten Sandlingam durch einen Steinlingam von Shiva ersetzen wollte, ließ der sich auch mit gesammelter Kraft nicht mehr vom Fleck bewegen. 

Deshalb ist das wichtigste Objekt der Anbetung im Tempel von Ramesvaram ein riesiger, mit Messing verkleideter, Lingam aus Kristall, vor dem jeden Morgen um halbfünf ein Ritual stattfindet. Außerdem gibt es 22 Wasserbecken im Tempel, an denen man sich mit Wasser übergießen lassen (und damit sein Karma reinigen) kann. 

Gestern sind wir nur durch den Tempel geschlendert, ohne uns an dem Wasser-Ritual zu beteiligen, aber für heute habe ich fest vor, mich zu den tropfnassen Menschen zu gesellen, die von Becken zu Becken gelotst werden, um sich dort von dem heiligen Wasser übergießen zu lassen. Die morgendliche Puja vor dem Kristall-Lingam habe ich schon verpasst. Eigentlich plagt mich deshalb jetzt einen kleinen Stachel der Reue - andererseits brauche ich auch regelmäßige Aus- und Ruhezeiten, um mich von den Anstrengungen und Herausforderungen der Reise zu erholen und die Eindrücke sinken zu lassen.

Am gestrigen Nachmittag machten wir mit einem Taxi einen Ausflug zu „Ram Seth“, der „Brücke“ (eigentlich eher „Übergangsstelle“) zwischen Indien und Sri Lanka, die von Hanuman mit Hilfe seiner Affenarmee aus großen, ins Wasser gelegten, Steinen gebaut wurde. 

Die meisten Touristen, die uns dort begegneten, waren Inder. Nur vereinzelt streiften weiße Touristen auf dem riesigen Strand herum. Allein die Fahrt dorthin beglückte uns. Der Blick aufs Meer zu beiden Seiten, während wir auf der schmalen Landzunge an vereinzelten Ansammlungen von Palmenhütten vorüber fuhren. Früher war hier auch eine ganze Stadt, Danushkodi, mit Bahnhof und Kirche, aber ein Zyklon hat sie im Jahr 1964 zerstört, und es sind nur noch gespenstische Reste übrig. Fast alle Souvenire, die man an den Verkaufsständen bekommen kann, haben ihren Ursprung im Meer: Armbänder aus Muscheln, Perlenketten, große Muscheln, denen man einen durchdringenden Ton entlocken kann, wenn man mit der richtigen Technik hineinbläst, zu Pfauen geformte Muschelmosaike, die einen Spiegel umrahmen, Korallenketten und Türschmuck aus winzigen Muscheln. 

Immer wieder forderte man uns zu "Selfies" auf, wir wurden von Frauen aus Rajasthan umarmt, aßen Gurken- und Ananassticks mit Salz und Chili aus Zeitungspapier und machten schließlich vor einem Fischrestaurant halt (eine Palmenhütte mit Plastiktischen und Plastikstühlen), wo wir gebratenen Fisch und Krabben von kleinen Plastiktellern aßen. 

In dem ins Meer gebauten Gandamadana Tempel ließen wir uns von dem zuständigen Brahminen die Geschichte von Rama und Sita noch einmal erzählen, bewunderten die Fußabdrücke von Rama, ließen uns mit der typischen Metallhaube segnen und bekamen jede ein paar Blätter Tulsi, heiliges Basilikum, in die Hand gedrückt..

Nach unserer Rückkehr ins Hotel machte ich einen Abendspaziergang um den Tempel herum, streichelte ein paar herumspazierende Ziegen (und gab ihnen das heilige Basilikum), schaute Pilgern beim Bad in den Wellen zu, begegnete einem übel von der Räude verunstalteten und verkrümmten Hund, dessen Bild mich jetzt wieder lange verfolgen wird, trank ein Glas Badam-Milch und dachte darüber nach, was die jungen Männer, die hinter dem dampfenden Topf mit der gelben Milch standen, wohl für Erwartungen ans Leben haben. 

Heute geht es weiter. Wir lassen unsere Zugtickets verfallen und  leisten uns eine fünfstündige Taxifahrt nach Trichy, die uns umgerechnet etwa 80 Euro kosten wird. 

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