Mittwoch, 6. Februar 2019

Ashram-Tagebuch


Im Ashram habe ich Tagebuch geschrieben. Hier kommen einige Auszüge daraus:


24/01/2019

Nach einer angespannten und anstrengenden Reise im Ashram Shantivanam. Erleichtert, ein Einzelzimmer bekommen zu haben. So froh, dem Laerm, dem Getuemmel entkommmen zu sein.


Der Ventilator laeuft volle Pulle. Statt Blog schreibe ich jetzt Tagebuch. Lesen, zeichnen, schreiben. Yoga, Meditation.

Es ist gut, hier zu sein. Ich weiss nicht, was uns die ganze Zeit in der Welt herumtreibt - die Gier nach neuen Erlebnissen, Eindruecken, die Angst vor der Leere, der Wunsch, etwas Besonderes zu sein. Aber auch der Wunsch, den Horizont weiter zu machen, sich auf Neues einzulassen, staunen zu koennen. Die Welt ist verrueckt und schoen, aber es wird auch deutlich, dass Leben staendig und ueberall Leiden bedeutet.


Habe nach der Ankunft eine grosse Ladung Waesche per Hand gewaschen und aufgehaengt. Sehne mich nach einem geregelten, ruhigen Tagesablauf, ohne Aufregung oder Laerm.


25/01/2019

Muss mich gerade abschirmen gegen den Welterklaerungs-Monolog eines Australiers vor der Tuer meines Nachbarn John, der ihm geduldig zuhoert. John, der meine Sympathie hat, nicht nur, weil er nach dem Fruehstueck losgeht, um Huehnerfleisch fuer die Kaetzchen zu kaufen, die im Ashram nur Milch und vegetarisches Futter bekommen.

Begann den Tag mit Namayapa, gefolgt von einem Spaziergang ins Dorf. Der Hund, dessen Schwanz vor einigen Wochen abgefahren wurde, so dass er mit einem uebel aussehenden blutigen Stumpf herumlief, ist noch am Leben. Er humpelt zwar und laeuft hin und wieder auf drei Beinen, aber der verunstaltete Schwanzstumpf hat angefangen zu heilen.

Sitze in der Bibliothek des Ashrams. Alte Buechervitrinen mit Glastueren. In Plastik gebundene Buecher, die die Spuren des feuchten Klimas tragen. Man koennte sich hier einschliessen und in diese Buecher versinken. Und waehrend ich das schreibe, erinnere ich mich vage an ein Buch, das ich irgendwann einmal gelesen habe: Es kam darin eine eine alte Frau vor, die in einem Turm eingeschlossen war. Sie hatte dort ihr ganzes Leben verbracht. Alles, was sie von der Welt wusste, hatte sie in Buechern gelesen.

(Spaeter)

Ein langsamer, heisser Tag. Nach der vormittaeglichen Kaffeepause schlief ich unter dem Moskitonetz, dann blaetterte ich auf dem ipad im Reisefuehrer und las nach, was wir auf unserer Reise gesehen (und was wir verpasst) haben.

Mittagessen, wieder einige Stunden unter dem Moskitonetz. Ich lese in der Anthologie "India in my Mind", die ich 2015 in Kerala gekauft habe und mir von Kochi nach Hause schicken habe lassen, um sie jetzt wieder mit nach Indien zu nehmen.

Auf dem Gelände der benachbarten Schule wird gerade in hoechster Lautstaerke fuer den morgigen Nationalfeiertag geprobt.

26/01/2019

Indischer Nationalfeiertag. Pater Chris hisst die Nationalflagge. Als sie sich öffnet, flattern Blütenblätter heraus. Auf dem Boden im Sand ein Kolam in den indischen Nationalfarben. Wer kann, stimmt in die indische Nationalhymne ein. Bonbons werden verteilt.

Sitze gerade vor dem Guesthouse in dem überdachten Oktagon. Ersehnter Schatten. In dieser Hitze lernt man, sich langsam zu bewegen.

Was ich noch in meine Reisebeschreibungen aufnehmen muss:

- die viel zu grossen Schuhe der Schulkinder in der Schule in den Bergen. Wie Boote, in denen die Fuesse schwimmen. Schnuerschuhe fuer die Jungs, Riemenschuhe fuer die Maedchen. Die Uniformen (lila Roecke / Hosen und karierte Blusen / Hemden), die an einem Tag in der Woche gegen T-Shirts und schwarze Trainingshosen ausgetauscht werden. Anpassung an westliche Kleidungssitten.

- die Zeitungslektuere: Kinofans übergiessen die Kinoplakate der aktuellen Filme mit Milch, um ihnen zum Erfolg zu verhelfen. So macht man das auch mit den Götterstatuen - bloß so ein Kinoplakat ist riesig groß, es gehen haufenweise Liter Milch dabei drauf, die doch (so der Artikel) besser den Kindern zu Gute kommen sollten. (Diese Milch-Überschüttung soll jetzt polizeilich verfolgt werden - es kommt nämlich dadurch auch verstärkt zu Milchdiebstählen)

- die geraeuschvollen Angewohnheiten unseres Taxifahrers von Ramesvaram nach Trichy (seine Hupgewohnheit ergänzend). Er ruelpste, zog den Rotz in der Nase hoch, kurbelte das Fenster herunter, spuckte geraeuschvoll aus, kurbelte das Fenster hoch, ruelpste wieder usw.


Die Mohrrueben, die wir nach dem Frühstück schaelen und hacken sollten, sahen beim ersten Anblick voellig unmoeglich aus. Krumme, gummiweiche Rueben, die sich in verschiedene Schwaenze teilten. Dazu der uebliche Riesenhaufen Zwiebeln.

Es ist Paarungssaison der Pfauen. In den frühen Morgenstunden Balzgeschrei der jungen Männchen. Ich sehe einem Pfau zu, wie der von einem Dach abhebt und dann auf einer Kokospalme landet. Der Palmenwedel biegt sich unter seinem Gewicht tief, ich erwarte, dass der große Vogel abgleitet, den Griff verliert, aber er behält das Gleichgewicht. Ein faszinierender Anblick

Muedigkeit. Der staendige Wunsch, mich hinzulegen und zu schlafen. Vergeblich suche ich nach Abkuehlung. Boujia, die Putzfrau, die hier schon arbeitete, als wir das erste Mal hier waren, und die das Gelaende wie ihre Hosentasche kennt, kommt herangeschlurft. Ihr Mann ist Schneider. Er war in den ersten Jahren oft hier, um Bestellungen entgegen zu nehmen. Aber seine Kreationen passten selten. Die einfachsten Auftraege verbaselte er. Spaeter erfuhren wir von seinen Alkoholproblemen, und jetzt haben wir ihn schon lange nicht mehr hier gesehen.

(Spaeter)

Am Morgen im Dorf - Pilgerinnen vor dem Shakti-Tempel, in gelb-rot-orange-farbigen Saris. Stehen sich in zwei Reihen gegenüber. Jede läuft dann an der Reihe entlang, bueckt sich, beruehrt die Fuesse der anderen. Unaufhörlich skandieren sie: "om shakti - para shakti". Ein weisshaariger Alter mit weissem Lunghi und weissem Hemd ruft mit penetranter Stimme Anweisungen, schubst und schiebt die Frauen hierhin, dorthin, als haette er es nicht mit Menschen zu tun, sondern mit einer Herde widerspenstiger Tiere.

Lese am Nachmittag Allen Ginsburgs Indien-Tagebuch. Er ist völlig präsent in seinen sinnlichen Erlebnissen und Wahrnehmungen. Es wird mir bewusst, dass auch mein Interesse mehr in der Wahrnehmung liegt als darin, die Wahrnehmung zu interpretieren oder zu bewerten.

Es wird allmaehlich dunkel. P hustet. Einer der Ashram-Gaeste geht in seine Zelle. Der alte Door Keeper schlurft vorbei, auf seinen Stock gestuetzt, und schaltet die Lichter auf dem Gelaende ein. Er beruehrt immer mit einer Hand sein Herz, wenn man ihn gruesst. Ich glaube, er ist stumm. Aus der Ferne Singen, Trommeln, Musik. Ich habe Yoga Nidra gemacht (Tiefenentspannung), bin wie immer dabei eingeschlafen. Die Sonne geht unter, aber kuehl wird es deshalb nicht. Die Bananenblaetter bewegen sich kaum merklich in einem kaum merklichen Wind.

In der kleinen Meditationshalle heute "Talk" von Father Doretick. Was ich mir gemerkt habe:

Drei Wege zur transzendenten Gotteserfahrung: Gebet, Meditation, Kontemplation.
Was ist Kontemplation? Stille, nichts tun.
Alles, was Gott geschaffen hat, ist gut, wenn auch nicht immer gut fuer mich. Oder ist ein Apfel zehn Tage lang gut und zehn Tage lang schlecht?
Da Jesus Mensch geworden ist, hat er auch gezeigt, dass der menschliche Koerper an sich nicht suendhaft ist.
Bequemlichkeit und Zufriedenheit sind zwei verschiedene Dinge. Der Wunsch nach Bequemlichkeit fuehrt nie zu Zufriedenheit, denn man will immer mehr davon. Zufriedenheit ist nicht von Bequemlichkeit abhaengig.
Jedes Leben besteht aus einem Auf und Ab, wie ein EKG. Wenn eine EKG-Kurve platt ist, bedeutet das nur das Eine: dass der Patient tot ist.
Sadhana (= religioese Praxis) erfordert Bestaendigkeit, taegliches Ueben. Worin die Praxis besteht, kann individuell von Person zu Person variieren.
Grundlegend ist es, die Wirklichkeit wahrzunehmen, als das was sie ist.
Achtsamkeit gegenueber dem, was ist. Dann gibt es auch keine Suende. Suende ist die Abwesenheit von Achtsamkeit.
Die Auferstehung Jesu ein Symbol fuer die voellige Befreiung, das Aufgehen in Gott. Der Weg dorthin geht ueber Versuchung und Leid, sich der Todesangst stellen, der Scham, der Erniedrigung.
Versuchung ist nichts Schlechtes, sondern etwas grundlegend Menschliches. Waeren Adam und Eva nicht in Versuchung geraten, dann waere die Bibel ein sehr kurzes Buch geworden.
Er lacht immer wieder, entzueckt ueber seine Gedanken.
Es ist auch menschlich, die Schuld auf andere abschieben zu wollen, so wie Adam und Eva es tun.
Manchmal kann er kaum weiterreden vor Lachen. Eine unbaendige Freude bricht aus ihm hervor. Die blendend weissen Zaehne in dem dunkelbraunen Gesicht. Ein schoener Mensch.
Unsere Aufgabe ist es, das Goettliche in uns zum Ausdruck zu bringen, nicht: das Menschliche.

Was uns alle vereint, ist der Atem. Und woher kommt der Atem? 

Stille.
Die Aufmerksamkeit auf den Atem richten ist grundlegend fuer alle Religionen.
Auch Leere ein Konzept, das vielen religioesen Traditionen gemeinsam ist.

(Spaeter abends)

Schreiben, ohne daran zu denken, dass jemand es lesen koennte.

Ein guter Tag mit Lesen, Schreiben, Schlafen.

Ich schlage das kleine Vivekanda-Buch auf, dass ich in Chennai gekauft habe und stosse auf den Vortrag "Why God?" - exakt die Frage, die ich mir in den letzten zwei Tagen gestellt habe. 

Seine Antwort: "Because it is the best word for our purpose; you cannot find a better word than that, because all the hopes, aspirations and happiness of humanity have been centred in that word. (...) The word God has been used from time immemorial, and the idea of this cosmic intelligence, and all that is great and holy, is associated with it. (...) Use the old word,only use it in the true spirit, cleanse it of superstition, and realize fully what this great ancient word means."

Froh heute Abend, weil wir hoffnungsvolle Nachrichten von Tsamikos bekommen haben, die seit zwei Tagen in der Tierklinik liegt. Die erste Angst hat sich jetzt in eine leise Zuversicht verwandelt.

Der Ventilator verteilt die warme Luft im Zimmer, aber die Haut wird trotzdem gekuehlt. Die ganze Nacht laeuft der Ventilator. Ueber die Gegenwart schreiben.

Und taeglich meditieren.

Schweisstropfen auf der Stirn. Der Plastikstuhl. Ich fange an, mir vorzustellen, wie es sein wird, wieder heimzukommen.

27/01/2019

Morgenspaziergang ins Dorf, erst den Sandweg entlang, dann ueber die neue Strasse, auf der Lastwagen und Motorraeder entlangbrausen. Es begegnen uns Maenner auf dem Weg zu ihrer Morgenwaesche im Fluss, ein Handtuch um den Kopf geschlungen, ein Stueck Seife in der Hand. Zu Fuß, auf Fahrraedern, auf Motorraedern.

(Waehrend ich das schreibe, ist der Sonntags-Gottesdienst im Ashram im Gange. Maennerstimmen singen zum Gerassel der Percussion-Instrumente. Ich habe stattdessen meditiert und Koerperuebungen gemacht, schaue jetzt den Voegeln zu, wie sie die Cashewkerne aufpicken, die ich in das Rosenbeeet vor dem Guesthouse geworfen habe.)



Das Dorf ist um viertel vor sechs schon wach. Die Frauen kehren mit ihren Palmenbesen vor den Haeusern, sprenkeln dann Wasser auf den festgestampften Lehm, gehen in die Hocke, um ein Kolam auf den Boden zu streuen, mit Reismehl, das sie zwischen ihren Fingern hervorrieseln lassen. (Eine Technik, die nicht einfach ist. Ps erster Versuch, ein Kolam zu machen, endete in einem wackeligen Desaster und dem amüsierten Lachen der Inderin, die es ihr beibringen wollte.)

Vor dem Tea Stall sitzen Maenner und trinken Tee oder Kaffee, andere kommen mit Fahrraedern oder Motorraedern an,um sich ihren "parcel tea in Metallbehaeltern abzuholen. Die Maenner machen Platz fuer mich und P auf einem der Fensterabsaetze. Kumar bereitet Pori-Teig fuer den Tag vor. Seine Frau uebernimmt das Teekochen. Tee und Milch und Zucker werden in einem langen Strahl gemischt. Tag fuer Tag die gleichen Handbewegungen.

Werfe den Voegeln wieder Casehwnuesse zu - sie haben sich jetzt schon daran gewoehnt, dass sie hier etwas bekommen. Schoene graubraune Voegel, sie picken die Nuesse auf, und so schnell, wie sie angeflogen kommen, fliegen sie dann auch wieder weg.

Besuch im Frauen-Ashram auf der anderen Seite des Wegs: Die Stille, Einfachheit. Entspannte Stimmung. Rote Steinhaeuschen unter Palmen. Blick auf den Fluss. Eine Nonne ("Mercy") fuehrt einen Hund an der Leine herum. Mercy liebt Tiere, erklaert mir Rahmana, eine Deutsche, die mich auf dem Gelände herumführt. Es gibt auch einige kleine Kätzchen. In der offenen Kueche hocken die Koechinnen auf dem Boden. Russgeschwaerzte Kochtoepfe auf dem Feuerherd. Ein Arbeiter kuemmert sich um die Kuehe, die in den rot getuenchten Staellen stehen und Bananenblaetter aus dem Futtertrog mampfen.

Die junge Vorsteherin Titi sitzt in grauer Nonnentracht auf den Stufen der Kapelle, die Beine ausgestreckt, und unterhaelt sich mit einer der deutschen Besucherinnen. Es sieht entspannt aus. Ich stelle mich vor. Sie sagt, sie habe bis vor kurzem Typhus gehabt, jetzt ginge es ihr schon wieder viel besser. Ein offenes Gesicht. "Du kommst mir bekannt vor." Spaeter erzaehlt Rahmana mir, dass Titi zuvor im Orden von Mutter Teresa gewesen sei. Sie sei dann in den Ashram gekommen, weil sie auf der Suche nach einem Leben im Schweigen gewesen sei. Die schwere Krankheit und der Tod der alten Amma habe sie ploetzlich in ihre neue Rolle versetzt. Sie habe sie als "Gottes Willen" angenommen, habe aber vor, sich in einer unbestimmten Zukunft wieder ins Schweigen zurueckzuziehen.

Ich frage nach Shirley, einer jungen Nonne, die ich bei meinen frueheren Besuchen oft gesehen habe. Sie ist nicht mehr da, erzaehlt Rahmana. Sie habe den Orden verlassen, weil sie nach acht Jahren nicht mehr ignorieren konnte, dass sie frei sein wollte. Jetzt lebt sie in Neuseeland. Meine zwei Extreme, denke ich. Der Wunsch nach Rueckzug und Eremitentum, der Wunsch nach Freiheit, Ungebundensein.

Der kurze Besuch in dem Frauen-Ashram hat mich mehr bewegt als vieles, was in den letzten Wochen geschehen ist.

Hier in der Stille, in der Ereignislosigkeit, entfalten sich andere Qualitaeten, kann ich mich anders oeffnen. Ich muss mich nicht mehr schuetzen, wehren, gegen aufdringliche Verkaeufer, gegen Laerm, Verkehr, Menschenmengen, Schmutz, gegen die Rolle der "Weissen", die man mir aufzwingt. Der Ashram kommt meinem Beduerfnis nach Einfachheit entgegen.

28/01/2019

(Morgens)

Namajapa um 5:30, dann Spaziergang ins Dorf, Tee bei Kumar und seiner Frau. Das selbe Ritual wie jeden Morgen. Die Frauen fegen vor den Haeuser, im Licht der baumelnden Gluehlampen, holen Wasser in den bauchigen Kannen, die sie dann in den Arm nehmen wie ein Kleinkind, das Gewicht auf die Huefte gestuetzt. Die Maenner kommen mit dem Fahrrad und einer Zigarette im Mund, um Parcel Tea oder Coffee zu kaufen.

Trotz des Geplaerres von dem kleinen Tempel und dem auf volle Lautstaerke gedrehten Radio in Kumars Tea Stand gibt es ein Gefuehl von Stille. Maenner mit Handtuechern um die Schultern gegen die Morgenkuehle, oder um den Kopf geknotet. Die Frauen gehen barfuss vorbei, die Wasserbehaelter gegen den Körper gedrückt. Ein Mann mit einer riesigen, auf den Fahrrad-Gepaecktraeger gezurrten Milchkanne schwingt ein Bein ueber die Stange seines Fahrrads.

Kumar bereitet wie jeden Tag das Essen vor, hackt Zwiebeln, Tomaten, ruehrt in grossen Aluminiumtoepfen. Die Unordnung und der Schmutz um ihn herum scheint er nicht wahrzunehmen, sie stoert ihn jedenfalls nicht - sein Ordnungsempfinden liegt woanders, in den taeglich mit Exaktheit wiederholten Bewegungen, dem fruehen Aufstehen, dem vorhersehbaren Tagesrhythmus. Kumars Frau haengt den Teestrump in den Metallbecher, laesst aus dem Wasserhahn des Teeofens Wasser darueber, dann schoepft sie heisse Milch aus dem Milchbehaelter.

Der Hund mit dem abgefahrenen Schwanz humpelt wieder vorbei - vielleicht humpelt er sogar ein wenig weniger, ist die Wunde wieder ein wenig mehr verheilt.

Langsam wird es heller - der Zauber loest sich auf.

29/01/2019

Die Mittagsglocke laeutet. Ich bin wieder unter einem Schleier von Muedigkeit, Ergebnis einer Nacht, in der ich nur wenig schlafen konnte. Legte das Buch "India in Mind" gestern beiseite, entnervt von der Perspektive der westlichen Besucher, die Indien als das "Unbekannte" erleben und ihr Nichtverstehen in einen Ueberlegenheitsblick umwandeln.

Gemuese geschaelt und gehackt, gefangen in unseren Lebens-Erzaehlungen, dem Bild, das wir von uns haben und versuchen, an die anderen zu vermitteln. Ein Bild schaffen von uns selber, das uns schmeichelt und das sich dann bei denen, mit denen wir umgehen, verselbstaendigt. Eine Rahmen und einen Namen erfinden.

Waesche gewaschen, in der ans Zimmer angebauten Nasszelle, die am Tag zu einem ueberdimensionalen Heizkoerper wird. Das deutsche Paar (er Pastor, sie "seine Frau"), die einige Tage hier gewesen sind, lassen am Tea Circle Kuerbisknaecke mit Emmentaler zurueck. P und ich koennen nicht aufhoeren zu essen. Wir knabbern und kauen, eine Knaeckebrotscheibe nach der anderen. Je mehr ich davon esse, desto hungriger werde ich.

Die alte Frau, die jeden Morgen die dicken, harten Platanenblaetter auf dem Platz zusammenfegt und dann in weisse Saecke fuellt. Und dann am Nachmittag das Gleiche noch einmal. Tag für Tag.

Wir fangen eine Kakerlake in einem Teebecher, werfen sie in den Sand vor dem Guest House.

In der Frueh Treffen mit Panir und zwei seiner Schueler am Fluss. Sie trainieren Silambam eine tamilische Martial Art mit Stoecken. Es beginnt mit grundlegenden Schritten, Drehungen, dann Spruengen. Aufwaermuebungen mit den langen Bambusstoecken. Schliesslich komplexere Bewegungsablaeufe, in zunehmender Geschwindigkeit. Sie bitten mich, ihnen etwas Aikido zu zeigen. Ich fange mit einer Stock-Kata an. Hast du nicht gesagt, dass Aikido auf "Harmonie" beruht? Ja, stimmt, aber der Stock ist nun mal eine Waffe. Majindra lacht. Sie verstehen die Prinzipien des Aikido gut. "Accept the force. Merge with the force." Wir verabschieden uns, vereinbaren, uns fuer morgen zur selben Zeit noch einmal.

(Abends)

Schlaefriger Tag. Abends in meiner Zelle. In der Teepause am Nachmittag Gespraech mit einem der Priester aus Kerala. Er studiert Philosophie in Mumbai, schreibt eine Arbeit darueber, wie es zu Gewalt zwischen Anhaengern verschiedener Religionen kommt. Im Moment macht er "Field Research", Gespraeche, Interviews. Meine Angst, eine Gespraechspartnerin zweiter Wahl zu sein, nicht interessant, nicht intelligent genug. Ist er erleichtert, als er endlich von mir wegkommt?

Das "Nicht-Erwuenscht-Sein": eine Grundangst in meinem Leben.

Machte eine Skizze vom Garten, fuehlte mich aber ueberwaeltigt von der Vielfalt der Vegetation und gab mittendrin auf. Ging stattdessen mit dem Ipad herum und fotografierte.

Abendspaziergang zum Fluss. Wir treffen Panir noch einmal. Er trainiert seit 1998 Silambam. Er wuerde gerne auch Aikido trainieren, aber hier gibt es keinen Meister. Ich sage, die Kleider waeren eh viel zu warm fuer das Klima hier.

P und ich reden uebers Heimkommmen. Ist es nicht seltsam, dass man sich immer von da wegsehnt, wo man gerade ist? Wir essen am Nachmittag Papaya, ich lese weiter in dem Buch "The Ghosts of Vasu Master" von Githa Hariharan. 

Hoere spaeter in dem kleinen Meditationspavillon zu, wie Pater Dorotick auf italienisch von der Geschichte des Ashrams erzaehlt. Ich liebe es, ihm beim Reden zuzuhören und zuzuschauen. Das kichernde Lachen. Er kann manchmal vor Lachen gar nicht weiterreden. 


Muede. Werde jetzt meine Zaehne putzen und dann unter das Moskitonetz kriechen.

30/01/2019

Die Heimkunft rueckt naeher. Ich zaehle meine sauberen Unterhosen. Fange an zu packen. Verstaue die neu gekaufte Unterwaesche in den Stahlcontainern, die ich gekauft habe. Wir fahren zu viert mit der Riksha nach Kulitthalai: Die Belgierin Neige, John, P und ich. Geld abheben, Obst kaufen, Huehnerfleisch fuer die Kaetzchen, eine Tiffinbox fuer L, die zuhause Lakshmi und Shanti huetet. Neige verabschiedet sich und macht sich auf die Suche nach einem neuen Koffer, da ihrer kaputt gegangen ist. Im Ashram teilen wir das Huehnerfleisch zwischen den Katzen auf. Jede zieht sich mit ihrem Fleischstueck in eine Ecke zurueck.

Die italienische Gruppe hilft beim Gemuesehacken. Heute Gelberueben, Rote Bete, Zwiebeln, eine Zucchiniart. Sie reden hauptsaechlich ueber Essen. Fermentieren scheint auch in Italien in Mode zu sein. Sauerteigbrot, Kombucha, etc. Sie hacken und reden. Mein Italienisch ist ziemlich angerostet, aber ich kann mich hin und wieder mit einfachen Saetzen am Gespraech beteiligen.

(Spaeter)

Unsere neue, energische Nachbarin Mishka, kommt aus Polen und lebt in Australien. Sie hat gleich nach ihrer Ankunft Marienbilder an den Saeulen des Oktagons aufgehaengt. Irgendwo in den Sechzigern ist sie, aber schlank wie ein Teenager. Ein grauer Zopf, eine riesige Brille, Schlapphut. Auf der Brüstung des Oktagons stapeln sich die Bücher, die sie heute Vormittag aus der Bibliothek geholt hat.

Zeit, ins Bett zu gehen. Habe mich mit kaltem Wasser uebergossen. Der Ventilator dreht sich auf Stufe 3. Heute habe ich nur eine einzige Bananenpflanze gezeichnet, mich beschraenkt, um nicht an der selbst gestellten Aufgabe zu scheitern. In Thanirpalli am Nachmittag in dem staubigsten Laden der Welt zwei Paeckchen Kurkuma und Bananen gekauft. In einem anderen Strassenladen vier Paeckchen indisches Knabberzeug. Wir machten uns gleich darueber her, als wir nach Hause kamen. Ich hatte einen Heisshunger.

Pater Chris: "2021 sterbe ich, bin jetzt schon neben den Friedhof gezogen. Ich bin bereit." 
Was war die beste Zeit in seinem Leben? "Als ich in den USA wohnte." 
Er sagt, er liebt Geschwindigkeit, faehrt mit seinem Motorroller gern so schnell, wie es nur geht. Einmal wurde er in den USA von der Polizei angehalten, weil er mit seinem Auto zu schnell gefahren war. Er rettete sich mit einer Luege, dass er auf dem Weg zu einem Sterbenden sei, und der Polizist liess ihn weiterfahren. 
Er kann sich an alle Frauen erinnern, die im Ashram gewesen sind, behauptet er. Er spielt beleidigt, weil Mishka ihn nach dreissig Jahren nicht erkannt hat. 
Er erzaehlt auch, dass der Ashram bei den Christen in Indien keinen guten Stand hat ("fuer die sind wir Hindus"), aber unter dem Schutz von Rom steht. 
Ich verstehe nicht alles, was er sagt, haenge aber trotzdem an seinen Lippen. Es redet frei von der Leber weg; es scheint ihm ganz egal zu sein, was andere von ihm denken. 
Vor seiner Huette auf einem Tisch ein riesiger Stapel mit gelesenen Exemplaren der "New York Times".

31/01/2019

(Abends)

Gespraech mit Father Paul, der seit 29 Jahren im Ashram lebt. Ueber Fasten (wovon er nichts haelt), ueber seine 85jaehrige Mutter, die trotz ihres hohen Alters immer noch fastet (gegen den Willen seiner Schwester, bei der sie inzwischen wohnt), ueber seinen Widerwillen, den Ashram zu verlassen, ueber seine Abneigung gegen grosse Menschenmenngen, ueber seine Ansicht zu Wiedergeburt ("wir werden staendig wiedergeboren"), ueber Carl Jung und die Theorie des kollektiven Unbewussten, ueber die Sprachen Suedindiens, ueber Literatur, die in Malayalam uebersetzt worden ist, u.a. Guenter Grass, Umberto Eco. Ueber die Gefahr, die von den Hindu-Nationalisten ausgeht, ueber seine Vorliebe fuer "Fakten" gegenueber Fiktion. Er erzählt auch, dass er seine alten Bibeln hin und wieder verbrennt, weil die alten Anmerkungen und Unterstreichungen nichts mehr mit ihm zu tun haben. 

Er verabschiedet sich und geht mit energischen Schritten zum Speiseraum, um seinen Teebecher abzuspülen. 

Es ist Zeit, zu packen.


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